Aktuelle Rechtsprechung des Bundessozialgerichts – Wann ist ein Lohnbuchhalter sozialversicherungspflichtig?

Am 22. Juli 2025 hat der 12. Senat des Bundessozialgerichts in der Revisionssache B 12 BA 7/23 R eine wegweisende Entscheidung zur Abgrenzung zwischen selbstständiger und abhängiger Beschäftigung getroffen. Im Mittelpunkt stand die Frage, ob ein Lohnbuchhalter, der auf Basis eines Vertrages über „freie Mitarbeit“ für einen Steuerberater tätig ist, sozialversicherungspflichtigoder versicherungsfrei ist.

Kernaussagen des Urteils

1. Tatsächliche Umstände entscheiden
Nicht die vertragliche Bezeichnung („freie Mitarbeit“), sondern das tatsächliche Gesamtbild der Tätigkeit ist maßgeblich. Das Gericht prüft, ob der Lohnbuchhalter in die Arbeitsorganisation des Auftraggebers eingebunden ist und ob er ein Unternehmerrisiko trägt. Fehlen diese Merkmale, liegt eine abhängige Beschäftigung vor – mit der Folge der Sozialversicherungspflicht.

2. Kriterien für die Abgrenzung
• Weisungsgebundenheit: Erhält der Lohnbuchhalter konkrete Anweisungen zu Arbeitszeit, -ort oder -ablauf?
• Eingliederung in den Betrieb: Ist er in die betriebliche Organisation des Steuerberaters integriert (z. B. durch feste Arbeitszeiten, Nutzung von Büroräumen oder EDV-Systemen)?
• Unternehmerrisiko: Trägt er das wirtschaftliche Risiko (z. B. für Fehlleistungen oder Auslastung) selbst, oder übernimmt dies der Auftraggeber?
• Dauer und Umfang der Tätigkeit: Eine langfristige, regelmäßige Zusammenarbeit spricht eher für ein Beschäftigungsverhältnis.

Praxisbeispiele: Wann liegt eine abhängige Beschäftigung vor?

Beispiel 1: Feste Arbeitszeiten und Integration in den Betrieb
Eine Lohnbuchhalterin arbeitet seit Jahren ausschließlich für eine Steuerberatungskanzlei. Sie hat feste Bürozeiten, nutzt die Software der Kanzlei und erhält konkrete Anweisungen, wie sie die Buchhaltung zu erledigen hat. → Abhängige Beschäftigung, da sie wie eine Angestellte in den Betrieb eingegliedert ist.

Beispiel 2: Eigenverantwortliche Tätigkeit mit mehreren Mandanten
Ein Lohnbuchhalter betreut mehrere Steuerberater und Unternehmen, arbeitet von zu Hause aus und entscheidet selbst, wann und wie er die Aufträge erledigt. Er trägt das Risiko, wenn Mandate wegfallen, und wirbt aktiv neue Kunden. → Selbstständige Tätigkeit, da er unternehmerisch handelt und nicht weisungsgebunden ist.

Beispiel 3: Scheinselbstständigkeit durch „Dauerauftrag“
Ein Lohnbuchhalter hat zwar einen „Freien-Mitarbeiter-Vertrag“, arbeitet aber seit Jahren nur für eine Kanzlei, nutzt deren Büroräume und erhält monatlich ein fixes „Honorar“ – unabhängig von der tatsächlichen Arbeitsleistung. → Risiko der Scheinselbstständigkeit, da die Merkmale einer abhängigen Beschäftigung überwiegen.

Praktische Konsequenzen für Buchhaltungsservices

• Sozialversicherungsbeiträge: Bei einer abhängigen Beschäftigung müssen Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteile abgeführt werden.
• Rückwirkende Nachforderungen: Eine falsche Einstufung kann zu erheblichen Nachzahlungen führen, wenn die Sozialversicherungsträger die Tätigkeit später als Beschäftigung einordnen.
• Statusfeststellung: Im Zweifel empfiehlt sich ein Antrag auf Statusfeststellung bei der Deutschen Rentenversicherung, um Rechtssicherheit zu schaffen.

Was bedeutet das für Ihre Praxis?

• Vertragsgestaltung: Verträge sollten die tatsächlichen Arbeitsbedingungen widerspiegeln. Pauschale Formulierungen wie „freie Mitarbeit“ reichen nicht aus.
• Dokumentation: Halten Sie Kriterien für Selbstständigkeit fest (z. B. eigene Betriebsmittel, freie Zeiteinteilung, mehrere Auftraggeber).
• Beratung: Bei Unsicherheiten lohnt sich eine frühzeitige rechtliche und steuerliche Beratung, um Nachforderungen und Bußgelder zu vermeiden.

Wird eine freie Mitarbeit von der Deutschen Rentenversicherung (DRV) oder im Rahmen einer gerichtlichen Prüfung als Scheinselbstständigkeit eingestuft, bedeutet das, dass der vermeintlich “freie Mitarbeiter” rechtlich als abhängig beschäftigter Arbeitnehmer angesehen wird.

Diese Feststellung löst weitreichende und oft kostspielige Konsequenzen aus, da nun die Regeln des Sozialversicherungs- und Arbeitsrechts rückwirkend zur Anwendung kommen. Die zentrale Gesetzesgrundlage hierfür ist § 7 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV), der Beschäftigung als “nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis” definiert und auf Merkmale wie Weisungsgebundenheit und Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Auftraggebers abstellt.

Folgen für den Auftraggeber (jetzt Arbeitgeber)
Für den Auftraggeber sind die Folgen am gravierendsten, da er als Arbeitgeber rückwirkend in die Pflicht genommen wird.

1. Nachzahlung der gesamten Sozialversicherungsbeiträge
Der Auftraggeber muss die Beiträge zur gesetzlichen Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung nachzahlen.

• Besonderheit: Er muss sowohl den Arbeitgeber- als auch den Arbeitnehmeranteil entrichten. Er kann den Arbeitnehmeranteil nur für die letzten drei Monate vom Lohn des Mitarbeiters einbehalten (§ 28g SGB IV). Der Rest verbleibt vollständig bei ihm.
• Verjährung: Der Anspruch auf diese Beiträge verjährt in der Regel nach vier Jahren. Bei vorsätzlichem Handeln (was oft unterstellt wird) verlängert sich die Frist auf 30 Jahre (§ 25 Abs. 1 SGB IV).
• Säumniszuschläge: Auf die Nachzahlungen werden Säumniszuschläge in Höhe von 1 % pro angefangenem Monat der Säumnis fällig (§ 24 Abs. 1 SGB IV). Dies kann die Nachforderungssumme erheblich erhöhen.

Beispiel:
Ein IT-Berater war drei Jahre lang für ein Unternehmen tätig und erhielt ein monatliches Honorar von 5.000 €. Die DRV stellt eine Scheinselbstständigkeit fest.

• Annahme: Der Gesamtsozialversicherungsbeitrag liegt bei ca. 40 % des Bruttolohns (ca. 2.000 € pro Monat).
• Nachzahlung: 2.000 €/Monat * 36 Monate = 72.000 €.
• Säumniszuschläge: Diese kommen noch hinzu und können sich auf mehrere tausend Euro belaufen.

2. Nachzahlung der Lohnsteuer
Das Finanzamt wird ebenfalls aktiv. Der Auftraggeber haftet für die nicht abgeführte Lohnsteuer (§ 42d Einkommensteuergesetz – EStG).

3. Strafrechtliche Konsequenzen
Das vorsätzliche Vorenthalten von Sozialversicherungsbeiträgen ist eine Straftat.

• Strafbestand: § 266a Strafgesetzbuch (StGB) – “Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt”.
• Strafe: Es drohen Geldstrafen oder eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren (in besonders schweren Fällen bis zu zehn Jahren). Verantwortlich sind in der Regel die Geschäftsführer oder der Vorstand.

4. Arbeitsrechtliche Folgen
Der Scheinselbstständige hat nun den Status eines Arbeitnehmers und kann entsprechende Rechte einklagen:

• Kündigungsschutz: Er kann nicht einfach “entlassen” werden, sondern unterliegt dem Kündigungsschutzgesetz.
• Anspruch auf bezahlten Urlaub: Rückwirkend für die Dauer der Beschäftigung.
• Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.

Folgen für den Auftragnehmer (jetzt Arbeitnehmer)
Obwohl der Auftragnehmer nun Arbeitnehmerrechte genießt, ergeben sich für ihn ebenfalls unangenehme Konsequenzen.

1. Rückforderung der Umsatzsteuer
Falls der Auftragnehmer Rechnungen mit ausgewiesener Umsatzsteuer gestellt hat, war dies unberechtigt, da Gehälter keine umsatzsteuerpflichtige Leistung sind.

• Das Finanzamt kann die an den Auftragnehmer ausgezahlte Vorsteuer vom Auftraggeber zurückfordern.
• Der Auftragnehmer muss die an das Finanzamt abgeführte Umsatzsteuer korrigieren und potenziell zurückzahlen, was zu buchhalterischem Chaos führt.

2. Verlust des Vorsteuerabzugs
Der Auftragnehmer verliert das Recht auf Vorsteuerabzug für seine betrieblichen Ausgaben (z. B. für Laptop, Software, Büromaterial), da er nicht mehr als Unternehmer gilt.

3. Statusänderung bei der Krankenversicherung

• War er privat krankenversichert, wird er nun rückwirkend versicherungspflichtig in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), sofern sein Einkommen unter der Jahresarbeitsentgeltgrenze liegt. Die Beiträge müssen nachgezahlt werden.
• Die bereits gezahlten Beiträge an die private Krankenversicherung (PKV) erhält er oft nicht oder nur teilweise zurück, was zu einer Doppelbelastung führen kann.

4. Einkommensanpassung

• Vorteil: Der Arbeitnehmeranteil zur Sozialversicherung wird nun vom Arbeitgeber abgeführt. Sein Nettoeinkommen könnte dadurch steigen, da er die Beiträge nicht mehr allein tragen muss.
• Nachteil: Der Auftraggeber kann versuchen, den Bruttolohn so anzupassen, dass seine Gesamtkosten (Bruttolohn + Arbeitgeberanteil) dem bisherigen Honorar entsprechen. Dies könnte zu einem niedrigeren Bruttolohn führen als das ursprüngliche Honorar.

Beispiel:
Eine freie Grafikerin erhielt 4.000 € Honorar pro Monat. Nach Feststellung der Scheinselbstständigkeit wird sie Arbeitnehmerin.

• Sie muss ihre Rechnungen korrigieren und die ausgewiesene Umsatzsteuer an den Auftraggeber zurückzahlen.
• Ihre betrieblichen Ausgaben kann sie nicht mehr steuerlich geltend machen.
• Sie wird rückwirkend in der GKV pflichtversichert. Die Beiträge für ihre PKV der letzten Jahre sind möglicherweise verloren.
• Ihr neuer Status als Arbeitnehmerin gibt ihr zwar Sicherheit (Kündigungsschutz, bezahlter Urlaub), führt aber kurzfristig zu erheblichem finanziellem und administrativem Aufwand.

Fazit

Das Urteil zeigt: Die korrekte Einstufung von Beschäftigungsverhältnissen ist entscheidend – besonders in der Buchhaltung, wo „freie Mitarbeit“ weit verbreitet ist. Wer hier Fehler macht, riskiert nicht nur finanzielle Nachteile, sondern auch rechtliche Konsequenzen. Eine proaktive Prüfung der Vertragsverhältnisse ist daher ratsam.


*Quelle: Bundessozialgericht, Urteil vom 22. Juli 2025 (B 12 BA 7/23 R)*


Haben Sie ähnliche Fälle in Ihrer Praxis erlebt? Ich freue mich auf Ihre Fragen und Anregungen!

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